[Zeitschrift für Weltgeschichte /Revista para la Historia
Mundial, Frankfurt, número 6.1, 2005]
4. DIE IBERISCHE WELT (SANTIAGO DE CAMPOSTELA)
Hans-Heinrich Nolte (Universitat Hannover,
Germany)
Vom 14. bis zum 18. Juli trafen sich die
Mitglieder der meist die spanische Sprache benutzenden Internet-Historiker-Society
ÂHistoria a Debate" [1] zu ihrem dritten Internationalen
Kongress in Santiago de Campostela , unterstützt von der Xunta
de Galicia und anlässlich des Xacobeo (des Heiligen Jahres des
Apostels Jakob 2004). Vorträge in allen Sprachen der iberischen
Welt (auch baskisch, wenigstens zur Anrede) von Teilnehmern
zwischen Nicaragua und Katalonien sowie Los Angeles und
Argentinien behandelten eine sehr breite Palette
historiographischer und inhaltlicher Probleme unter
wissenschaftstheoretischen und sachgebundenen
Hauptüberschriften wie 1. Rekonstruktion des historischen
Paradigma  Globalgeschichte  einzelne Paradigma -
Historiographie und Gegenwart und 2. Grosse Debatten Â
Zeitgeschichte (etwa New American Century  Globalisierung und
Antiglobalisierung  Osten und Westen  11. September und 11.
März - neue Gruppen[2]). Es wurden auch englische und
französische Vorträge gehalten; fortlaufende Ãbersetzung war
organisiert, allerdings waren nicht alle Vortragenden willig,
sich auf die Bedingungen einer Ãbersetzung einzulassen.
Um herauszugreifen, woran der Berichterstatter
teilnahm - die Vormittagssitzung des 16. Juli begann mit einem
Vortrag von Carlos MartÃnez Shaw von der Fernuniversität
Madrid über Geschichte der Meere als Gesamtgeschichte, der
Unterzeichnete berichtete über Methoden des
Hochschulunterrichts über Globalgeschichte,[3] Hilda N.
Agostino von der Universität La Matanza trug über eine Aktion
der HaD zur Unterstützung eines von der argentinischen
Regierung angegriffenen Kollegen vor, Mariela Coudannes von der
Universität Santa Fe, Argentinien über ÂNetworking" als
Methode, Kerstin Sundberg aus Lund über grosse Kollegen wie
Braudel und Wallerstein, Luciano Gallinari aus Cagliari über
die Isolierung von Inseln und Josefa Salmon von der Loyola-Universität
New Orleans über die Aymara-Bewegung in Bolivien. Die
Nachmittags-Sitzung war unter der Leitung von Andre Gunder Frank
enger fokussiert und dem Verhältnis Orient-Okzident gewidmet;
es gab einige Kritik, aber auch Unterstützung für sein Konzept.
Durchaus in diesen Kontext gehörte ein engagierter Vortrag von
Tzvi Tal von der Universität Tel Aviv gegen die
expansionistische Politik der Regierung Israels .
In der Vormittagssitzung des 17. Juli begann
Christian Thibon von der Universität Pau mit den
Schwierigkeiten, über Genozide zu schreiben. Raoúl Dargoltz
von der Universität Santiago del Estero/Argentinien beschrieb
den Fall, über den Hilda Agostino berichtet hatte, aus der
Sicht des Betroffenen nach einer zeitgeschichtlichen Studie
über die Regierung Menem in der Provinz Cordoba wurde er
verklagt, konnte aber auch durch die Solidarität der Kollegen
seine Position vor Gericht bewahren. Ãhnlich stellte Juan Paz y
Miño von der Katholischen Universität Ecuador vor, wie viele
Historiker, wenn sie Zeitgeschichte schreiben und nicht dem
neoliberalen Modell folgen, in die aktuellen
Auseinandersetzungen involviert werden. Er hielt auch daran fest,
dass man zum Ausgleich der historischen Schuld der nördlichen
Nationen an der Armut Lateinamerikas eine Entschädigung fordern
müsse. José Monzant von der Universität Maracaibo verteidigte
Präsident Chavez und beschrieb die Gruppen seiner Gegner.
MarÃa Jesús Cava von der von der SJ getragenen Universität
Bilbao (sie war es, die ihren Beitrag baskisch begann) beschrieb
die zunehmende Macht der Medien für die Zeitgeschichte Âwir
werden alle Thomisten im Sinn des Apostels >sieh hin und
berühre<"[4] meinte sie in einer amüsanten und doch
die Kritik ansprechenden, eindringlichen Wendung.
In der Nachmittagssitzung plädierte Chentouf
Tayeb von der Universität Oran dafür, Kulturen und nicht
Religionen zum entscheidenden Paradigma des
Geschichtsunterrichts zu machen. Patrick Wilkinson aus
Düsseldorf meinte (in gewissen Sinn dagegen) dass Amerika immer
eine Religion gewesen sei und niemals eine Nation Âthe USA is
a religious institution where freedom stands on the place of
salvation". César González Minguez von der Universität
Vitoria plädierte für ein neues, multinationales Konzept für
Spanien. Josefa Cuesta von der Universität Salamanca berichtete
über die weltweiten Bemühungen, in Wahrheitskom-missionen o.
ä. die Geschichte von Verbrechen aufzuarbeiten; Emilio Silva
von der spanischen ÂAsociación para la Recuperación de la
Memoria Histórica" trug unter ganz besonderem Beifall
über die Arbeit der Assoziation zum Auffinden von Gräber oder
zur Klärung von Personenschicksalen aus der Franco-Zeit vor.
Das Treffen spiegelte in gewisser Weise die
Vielfalt, aber auch die Ungeordnetheit eines Networks. Die
Zuhörer versuchten dem zu entsprechen, indem sie zwischen den
Hörsälen hin und her wanderten  wie eben im Internet auch. (Wer
wie der Berichterstatter an einem Ort blieb, fiel fast etwas auf
 die Kolleginnen und Kollegen führten das etwas spöttisch
auf germanische Sitzfestigkeit zurück, es entsprach aber eher
einem altmodisch werdenden Versuch, einen Kontext zum Zuhören
zu suchen). Manche Vortragende fielen auch in die Isolierung des
Bildschirms zurück; sie bestanden auf einer Sprache (z.B.
Portugiesisch), welche die Ãbersetzerinnen nicht beherrschten,
sie rasten durch ihre ach so wichtigen Texte, so dass die
Ãbersetzerinnen nicht folgen konnten, oder sie fanden kein
Ende, obgleich die ihnen zugewiesene Zeit längst verbraucht war.
Die Diskussionen waren entsprechend sehr lebendig, aber auch
disparat  so konnte die Einwand eines Amerikaners an Dargoltz,
was denn die besondere Kapazität eines Historikers in einer
aktuellen politischen Auseinander-setzung ausmache (im
Unterschied zu einem guten Journalisten z.B.) und wann ein
Historiker intervenieren solle/könne, nicht weiter diskutiert
werden; oder es blieb die Frage an
Wilkinson offen, ob die Ãbertragung des
Konzepts einer Offenbarungsreligion auf eine auf innerweltliche
Ziele gerichtete Ideologie etwas erklärt oder eher wichtige
Differenzen verwischt und damit einen polemischen Charakter hat.
Der Organisator der Vereinigung, Carlos Barros von der
Universität Santiago de Campostela, betonte in einem grossen
Vortrag den Charakter des Networks, in dem globale und komplexe
Informationen ausgetauscht werden. Er plädierte für eine
engagierte Zeitgeschichte und eine historiographische Allianz
mit der Historiographie der sechziger und siebziger Âeine
Allianz, die durch die Anwesenheit von Andre Gunder Frank
symbolisiert wurde. Er begrüÃte die englischsprachigen
Mitglieder, beschrieb das Network aber doch als ÂLatin
movement with global scope" Â womit er konkret an die
Forderung Maurice Aymards in Florenz anknüpfte, dass die
europäische Kultur stets einen bilingualen Charakter besessen
hat. Vielleicht wird also nicht Französisch die zweite Sprache
bleiben, sondern Spanisch es werden - aber eine bloss anglophone
Kultur kann man für die Âatlantischen" Kulturkreise
nicht im Ernst wünschen. Das heisst selbstverständlich, dass
es zur Bildung von Angehörigen kleiner Sprachgebiete wie des
deutschen oder auch des baskischen gehören wird, drei Sprachen
zu lernen (denn der eigenen ist ja nicht schon dadurch gebildet,
weil man sie als kindliche Umgangssprache gelernt hat). Wer Â
wie der Autor  Latein als seine romanische Sprache gelernt hat,
musste in Santiago de Campostela entsprechend alle Vorträge
beginnen mit ÂSiento, que no hable español."
[1] www.h-debate.com
; vgl. Das Manifest von Historia a Debate in Ãbersetzung in ZWG
3.1 (2002) S. 113 Â 124.
[2] U.a. ein Kurzbericht von Hans-Heinrich
Nolte über den Verein für Geschichte des Weltsystems e.V. und
die ZWG.
[3] Weithin nachzulesen unter www.vgws.org
- berichte.
[4] Vgl. Johannes 20, 24 Â 29. |